Baustellen, Bus- und Bahn-Frust: Zug-Chaos in Mittelhessen

PRO BAHN Mittelhessen nennt hier Ausschnitte einer Serie aus der Wetzlarer Neuen Zeitung.

Mittelhessen. „Chaos“, „Unverschämtheit“, „Glückspiel“ – die Stimmung von Zugreisenden in Mittelhessen ist derzeit auf einem Tiefpunkt. Anlass sind Baustellen und Störungen. Der Schienenersatzverkehr mit Bussen sorgt bei etlichen Pendlern für weiteren Frust. Reisende berichten dieser Redaktion, dass sich Zeiten für Fahrtwege aktuell verdoppeln – wenn sie überhaupt ans Ziel kommen. Hinzu kommen Probleme mit der Bahn-App, in der Verbindungen falsch angezeigt werden. Was ist da los bei der Bahn?

Ausfälle auf der Dillstrecke, ebenso von Wetzlar nach Gießen

Wer derzeit mit der Bahn in Mittelhessen unterwegs ist, braucht starke Nerven. Auf der Dillstrecke etwa gab es zwischen Haiger und Dillenburg in den vergangenen Tagen Arbeiten, bei denen es zu Zugausfällen kam. Ein Schienenersatzverkehr mit Bussen wurde eingerichtet. Hinzu kommen nach Bahnangaben Teilausfälle wegen nicht besetzter Stellwerke. Auch von Wetzlar nach Gießen fuhren bisweilen Busse statt Züge. So richtig aber funktioniert das alles nicht, berichten Reisende.

Eine 37-jährige Pendlerin aus Driedorf fährt von Herborn nach Frankfurt, wie sie dieser Redaktion berichtet, aber ihren Namen nicht lesen möchte. „Leider waren die Busse sehr voll und die Zwischenhalte waren sehr unterschiedlich.“

Eine 20-jährige Studentin aus Gießen, die nach Wetzlar wollte, berichtet, dass Busse zudem nicht verlässlich fuhren, entweder nicht zu den angekündigten Zeiten, oder aber sogar überhaupt nicht. Viele Busse seien zudem überfüllt.

„Der Ersatzverkehr verlängert die Fahrzeit aktuell signifikant“, berichtet die Pendlerin derweil. „Normalerweise brauche ich für meinen Arbeitsweg zwei Stunden von der Haustür zur Arbeit, aber an einem Tag waren es beinahe vier Stunden“. „Reines Chaos“, sagt ein Leser, der das Treiben um den Dillenburger Bahnhof beschreibt.

Im konkreten Fall der aktuellen Sperrung der Dillstrecke ist dies weitgehend schief gegangen.

Thomas KraftVorsitzender „Pro Bahn“ Mittelhessen

Das was hier einzelne Fahrgäste beschreiben seien keine Einzelfälle, schätzt der Fahrgastverband „Pro Bahn“ Mittelhessen die Lage ein. „Deutschlandweit kracht es bei den meisten baustellenbedingten Streckensperrungen mit dem Schienen-Ersatz-Verkehr (SEV) hinten und vorn“, sagt der Landesverbandsvorsitzende Hessen sowie Regionalvorsitzende Mittelhessen, Thomas Kraft.

Genau das sei nun auch in Mittelhessen passiert. Kraft: „Im konkreten Fall der aktuellen Sperrung der Dillstrecke ist dies weitgehend schief gegangen. Der Fahrplan wurde nicht eingehalten. Uns erreichen auch Informationen, dass einige im Ersatz-Fahrplan dokumentierte Fahrten komplett ausgefallen sind, was dadurch Wartezeiten von zwei Stunden und mehr verursachte.“

Busfahrer weichen von Route ab, Sprachbarriere birgt Problem

Auch den Fall der Studentin kann der „Pro Bahn“-Vorsitzende bestätigen. In anderen Fällen seien die Fahrer von der eigentlichen Fahrtroute abgewichen, es wurde aufgrund von deutlichen Verspätungen die Fahrt zwischendurch abgebrochen, wieder in die Gegenrichtung gefahren, um den sogenannten ,Umlauf‘ einzuhalten.

Was aber bei Reisenden für besonderen Verdruss sorgte und für „Pro Bahn“ auf komplettes Unverständnis stößt: Einige Orte wurden trotz eines ursprünglichen Ersatzfahrplans nicht angefahren. Betroffen sind etwa Werdorf, Katzenfurt, Edingen, Rodenbach oder Dillbrecht. „Wer aus der Region kommt, gibt dann zwischendurch auf, lässt sich entweder bereits in Gießen beziehungsweise Siegen oder einem Zwischenhalt von Familienangehörigen oder Bekannten abholen. Andere wiederum nehmen das teure Taxi oder Minicar in Anspruch.“

Ein Grund für die Probleme sei auch ein Zuständigkeits-Wirrwarr. Kraft von „Pro Bahn“ erklärt, dass es nicht Aufgabe der Verkehrsverbünde – etwa dem Rhein-Main-Verkehrsverbund (RMV) – sei, den Ersatzverkehr bereitzustellen, sondern jedes einzelne Bahnunternehmen dies für jedes Bündel einzeln regeln müsse.

Auf der Dillstrecke etwa fahren gleich mehrere dieser „Leistungsbündel“, der Regionalexpress RE99 (Frankfurt/Gießen/Wetzlar/Siegen), die Regionalbahn RB40 (Frankfurt/Gießen/Wetzlar/Dillenburg) sowie Abschnittsweise die der Lahntalbahn RE25 (Gießen/Wetzlar/Limburg), RE24 (Gießen/Wetzlar/Limburg) und die RB45 (Fulda-Gießen-Wetzlar) sowie nördlich von Dillenburg die RB95 (Dillenburg/Haiger/Siegen) und die RB96 (Dillenburg/Haiger/Betzdorf).

Bis auf die RE25 sei für alle Einzelleistungen die Hessische Landesbahn (HLB) das ausführende Bahnunternehmen. „Dennoch muss für jede vorweg genannte Leistung ein eigener SEV koordiniert und bestellt werden“, erklärt Kraft.

Einweisung in Routen misslingt, verwirrende Regelungen

Aber es gibt dabei Probleme: „Aktuell sind die besseren Kapazitäten bei der aktuellen Generalsanierung der Bahnstrecke zwischen Berlin und Hamburg im Einsatz. Für die restlichen Baustellen bekommt man das, was man auf dem Arbeits- und Kapazitätsmarkt überhaupt noch kriegen kann“, so Kraft.

Die Einweisung in die Routen misslinge fortwährend. Oftmals gebe es ein gravierendes Sprachproblem, weil Personal kaum oder gar nicht der deutschen Sprache mächtig sei. „Die oft sehr kleinen Busunternehmen, welche in die Marktnische eingestiegen sind, können diese Ausbildung auf den konkreten Anlass überhaupt nicht leisten.“

Wie verwirrend die Regelungen sind, zeigt sich bei der Anfrage dieser Redaktion. Die Pressestelle der Bahn verweist um eine Stellungnahme gebeten, zunächst auf die Zuständigkeit der HLB, die wiederum auf die Bahn zurückverweist. Diese will im Haus zunächst recherchieren – was bis zum Ende der Recherche dieser Redaktion am Montagabend nicht gelingt.

„Pro Bahn“ fordert eine Reform. Kraft: „Die grundsätzliche Festlegung, dass die ausführenden Bahnunternehmen dies für einzelne Linien/Linienbündel bestellen, muss aufgegeben werden.“ Dies gehöre zentral für eine Baumaßnahme organisiert und am besten landesweit über die Verkehrsverbünde.

„Da wir über Jahrzehnte in Deutschland noch massenhaft Baustellen im Schienennetz haben werden, muss eine deutschlandweite Busflotte aufgebaut werden, so wie diese jetzt schon für die Generalsanierungen zur Verfügung steht.“ Das sind Busse, die extra in dem violetten SEV-Design lackiert sind.

„Deutschlandweit sind entsprechende Depots einzurichten, wo diese violetten Busse stationiert sind.“ Sie wären dann für den Fahrgast schnell vom übrigen Linienbusverkehr zu unterscheiden. Diese Depots mit violetten Bussen können durchaus bei bestehenden mittelständisch Busunternehmen angesiedelt sein.

Auf ein weiteres Problem macht „Pro Bahn“ aufmerksam: Die Behinderungen wegen der Baustelle der Dillstrecke sei „nicht im erforderlichen Maß kommuniziert“ worden. „Dadurch wurden auch wir weitgehend von dieser Komplettsperrung zwischen Wetzlar und Siegen überrascht. Auch hier wurden die Mindestanforderungen nicht erfüllt.“

Kraft drückt es so aus: „Die Menschen kommen gerade aus den Sommerferien und es gibt zwei Wochen Chaos auf der Schiene im Lahn-Dill-Kreis.“ Der Pro-Bahn-Vorsitzende sagt: „Mit diesem Vollchaos kann man keine neuen Fahrgäste gewinnen, so springen sie eher ab und wechseln vom Zug auf das Auto.“ Genau das hat zumindest die Studentin in Wetzlar vor. Trotz kostenlosen Fahrens mit dem Semesterticket will sie auf Bus und Bahn zwischen Wetzlar und Gießen künftig verzichten.